DYSE
Speedhippie
Kulturgruppe präsentiert :
DŸSE + special guest
Dÿse „Widergeburt“
Flüstern, Grollen, Scheppern, Abfahrt. Von der emotionalen wie
detailgeladenen Musik des Berliner Noise-Rock-Duos mag man
sich zwar immer wieder gern niederstrecken lassen, doch es
geht hier um so viel mehr als um bloße Überwältigung. Das neue
Album „Widergeburt“ verdichtet das Prinzip Dÿse dabei wie noch
nie – ein Ameisenhaufen aus großen, kleinen und verdammt
abgedrehten Ideen.
Ein einzelner Mann stellt sich dem anrollenden Panzer in den
Weg. Mensch gegen Kriegsmaschine. Die Kräfteverhältnisse
könnten kaum ungleicher sein. Und doch… der Panzer stoppt.
„Tankman“ wird er in dem Dÿse-Stück „Laicos Neidem“ genannt,
dessen Text unter anderem auf dieses ikonische Bild vom
Aufbegehren der Studierenden in Peking 1989 referiert. Ein
Bild, das um die Welt ging. Also nach damaligen Verhältnissen,
also Tagessschau, Zeitungen, Illustrierten – alles mehr oder
weniger zeitversetzt. Analoge Schneckenpost eben.
Welch intervenierende Kraft allerdings hätten diese Bilder aus
Peking wohl heute zu Zeiten Social Media gehabt? Hätte die
damit verbundene Öffentlichkeit das Überrollen des Aufstands
verhindert? Oder panzert Social Media viel eher im Hier und
Jetzt ein respektvolles Miteinander nieder?
Fragen, auf die man beim diesem Album gefasst sein muss.
Vorgegebene Antworten zum Ankreuzen in Kästchen gibt‘s
woanders. „Widergeburt“ dagegen ist die multiperspektivische
Noiserock-Intervention des neuen Jahrzehnts.
Aber noch mal von vorn: Dÿse, das sind Jarii van Gohl und
Andrej Dietrich. Mit ihrer Gründungsgeschichte sollte man sich
nicht lange aufhalten, im Zweifel stimmt sie ohnehin nicht.
Selbst auf Wikipedia finden sich eher fragwürdige Legenden
über das Kennenlernen der beiden, klingt alles mehr nach
Seemannsgarn statt nach belastbaren Hard Facts. Sie hätten
eine gute Geschichte schon immer der musikhistorischen
Auskunftspflicht vorgezogen, sagt Andrej Dietrich
entschuldigend. Wobei es allerdings nicht wirklich so
aussieht, als täte ihm das Besonders leid. Warum sollte es
auch?
Dÿse, das ist diese Band mit dem komischen Umlaut, sie nahm in
den Nuller Jahren in Jena ihren Ausgang, mittlerweile leben
Andrej und Jarii in Berlin.
Beschäftigt man sich mit der Musik der beiden gelangt man
immer wieder an die zentralen Eckpunkte: Haltung, Intensität,
D.I.Y., Live, Energie.
Darüber hinaus irritieren Dÿse gern das System, auch das
eigene, und würden nicht ohne den mitgelieferten Humor
funktionieren. Soviel zur Ausgangsposition, wer wirklich noch
mehr Hard Facts braucht, möge bitte ein Crowdfunding für ein
Dÿse-Biopic ins Leben rufen.
Im Mittelpunkt soll das Jetzt stehen, sieben Jahre nach „Das
Nation“ nun das neue Album.
Darauf haben Dÿse, dieses Duo ohne Bass-Spieler, ihrem Missing
Link auf ein kleines Denkmal gesetzt. Hallo Bassist! Der fehlt
dem Duo schon immer – mit voller Absicht. „Trotzdem wollten
wir natürlich auch diesmal das Frequenzspektrum abdecken“,
sagt Jarii van Gohl. Auch diesmal sollten die Aufnahmen nicht
ohne Bass-Spuren auskommen. Dÿse haben sich dafür an
befreundete Bassisten gewandt und um Beiträge zu den neuen
Stücken gebeten. Der Bassist also als Ehrengast?
Ja.
Honig auf die Wunden, denn man weiß doch, wie sparsam der Bass
sonst in einer Band mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Bei Dÿse
knüpfen also zehn unterschiedliche Bassisten an die Songs an.
Bassisten, die sonst u.a. Beatsteaks, Deichkind, Kraftklub,
Vizediktator, Heaven Shall Burn bis hin zu Rammstein spielen.
Ach ja, und auf „Alles ist meins“ hört man Farin Urlaub am
Bass – der bei den Ärzten, so genau sollte man sein, gemeinhin
ja eher Gitarre ist.
Ein solches Open-Source-Konzept gab es vorher noch nicht, aber
für Dÿse ist das Kollektiv-Bewusstsein dennoch nichts Neues.
Das Album „Das Nation“ trug diesen bandeigenen Pluralismus ja
bereits im Namen – und auch in der Musik.
So hat man auch „Laicos Neidem“ das erste Video, genutzt, mit
Leuten zusammenzukommen, mit dem Dÿse-eigenen Ziel, gemeinsam
mehr als die Summe der einzelnen Teile zu sein. Schlagzeuger
und Sänger Jarii van Gohl allerdings zerlegte es dabei fast in
Einzelteile. „Ich habe früher Breakdance gemacht – und war der
Überzeugung, ich muss mich nicht aufwärmen. In Folge dessen
habe ich mir das Knie verdreht. Meniskusschaden.“ Auweia.
„Aber Schlagzeugspielen geht schon wieder“, schickt er zur
Beruhigung hinterher. Na, dann. Dem Clip sieht man diese fiese
Facette zum Glück nicht an, er beschwört eher Blockparty-
Atmosphäre herauf, wie man sie von einem 80er-Jahre Kultfilm
wie „Beat Street“ kennen kann.
Die größte Leistung von „Widergeburt“ dürfte allerdings sein,
dass diese entfesselte Energie, die ihre Live-Auftritte zu
einer Mischung aus Auffahrunfall und Ekstase werden lässt,
noch nie unmittelbarer auf Band gepresst wurde.
Wer Dÿse schon mal live erlebt hat, weiß, was dieser letzte
Satz für eine Verheißung darstellt…
Text: Linus Volkmann
Foto by Norman Konrad